Trisomie 21 – Das Paradepferd der Pränataldiagnostik 

In der Versorgung von Schwangeren ist die aktive Suche nach dem Down-Syndrom ein fester Bestandteil geworden. In der medizinischen Praxis haben die meisten Vorsorgeempfehlungen einen Bezug zum Down-Syndrom (vgl. Storm 2000: 130). Es werden verschiedene Screeningmethoden eingesetzt, dazu gehören der Ultraschall beim Erst-Trimester-Screening, die Messung der Nackenfalte und der im Jahr 2012 eingeführte pränatale Bluttest (NIPT). All diese Methoden werden so früh wie möglich durchgeführt, so dass sich ein frühzeitiger Schwangerschaftsabbruch durchführen lässt (vgl. Stockhausen 2002: 1146). Die Therapie ist der Tod. So ordnet auch die Autorin Katja Weiske die Konsequenzen dieser Suche ein. Das stelle einen „kategorialen Unterschied“ zu den nahezu zeitgleich eingeführten allgemeinen Vorsorgeuntersuchungen dar (vgl. Weiske 2008: 19).

Abtreibung von Kindern mit Down Syndrom

Die Abtreibung eines Kindes mit Behinderung ist unter der Beachtung bestimmter Regeln zu jedem Zeitpunkt in der Schwangerschaft möglich. Und zwar immer dann, wenn durch die diagnostizierte Erkrankung des Kindes (medizinische Indikation) eine Gefahr für das Leben der Schwangeren oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung (körperlich oder seelisch) der Schwangeren besteht (vgl. § 218a Absatz 2 StGB; Schlögl-Flierl & Dannecker 2020: 42). Voraussetzung ist eine dreitägige Bedenkzeit und ein Beratungsgespräch. Ein Kind gilt ab der 22. Schwangerschaftswoche (22. SSW) als lebensfähig. Viele Kliniken lehnen es daher ab, eine Spätabtreibung ab der 22. SSW durchzuführen (vgl. Zimpel 2016: 190). Um zu verhindern, dass das Kind lebend geboren wird, wenden einige Mediziner bei Spätabtreibungen den sogenannten Fetozid an: Die Tötung des Kindes im Mutterleib durch eine Kaliumspritze ins Herz des Ungeborenen (ebd.).

Die Häufigkeit der Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischen Gründen lag in den Jahren 2015 bis 2019 bei ca. 3.800 Abbrüchen. Das macht weniger als 4 Prozent aller Abtreibungen in den Jahren aus (vgl. Schlögl-Flierl & Dannecker, 2020: 42). Die Krankheitsdiagnosen der Ungeborenen werden statistisch nicht erfasst. Des Weiteren bleibt offen, wie viele Schwangerschaften wegen einer unmittelbaren körperlichen Gefährdung der Mutter und wie viele wegen einer befürchteten seelischen Gefährdung durchgeführt wurden. 

Kritik an Umgang mit Pränataldiagnostik: Gesucht, gefunden und getötet

Wissenschaftler*innen, Mediziner*innen und Vertreter*innen von Interessensverbänden kritisieren die Fokussierung der Pränataldiagnostik auf das Down-Syndrom. 

„Es kommt zu einer medizinischen Stigmatisierung des Down-Syndroms, deren Menschsein, Lebensfreude und Kreativität aus dem Blick geraten, so dass sie als unerwünschte Kreaturen erscheinen, die mit Hilfe der Pränataldiagnostik ja gar nicht geboren werden müssen oder sollen“ (Weiske 2008: 19). 

Storm (2000: 135) plädiert dafür, die pränatale Aufklärung um Aspekte wie Fördermöglichkeiten sowie die Darstellung der individuellen Fähigkeiten von Kindern mit Trisomie 21 zu erweitern. So sollen Kinder mit DS nicht länger als „Paradepferde“ in der Pränataldiagnostik „mit möglichst anzustrebendem Schwangerschaftsabbruch herhalten müssen“ (ebd.). Die Journalistin und Autorin Kirsten Achtelik (2018: 86) zitiert eine Untersuchung von Lenhard, Henn, Ebert, Schindelhauer-Deutscher und Breitenbach aus dem Jahr 2005 mit der Feststellung, dass 47,7% der Eltern von Kindern mit Trisomie 21 eine Verschlechterung der gesellschaftlichen Stellung behinderter Menschen aufgrund der Pränataldiagnostik befürchten. Achtelik sieht in der Pränataldiagnostik (PND) allein aber keinen Anlass zur Diskriminierung. All diese Bezüge funktionieren ihren Ausführungen zufolge nur mit Bezug zum Schwangerschaftsabbruch. Daher stellt die Autorin fest, dass die große Akzeptanz der Pränataldiagnostik das „normative Verständnis von Behinderung als Defizit“ verstärke. Zudem stellt es Behinderte als Leidende dar und würde so die Handlungsoptionen von Schwangeren einschränken. „Diskriminierung, die durch pränatale Diagnostik erfolgt, kann nur in Bezug auf das ableistische medizinische Modell von Behinderung beobachtet werden.“ schlussfolgert Achtelik (2018: 89 f.). Müller-Wiedemann (1990: 87 f.) weist darauf hin, dass die Diagnose genetischer Behinderungs-Syndrome immer eine Gruppendiagnose sei. Es wird also von einem Merkmal auf eine gesamte Gruppe geschlossen. Gleichzeitig betont er, dass alle Menschen mit Down-Syndrom unterschiedlich begabt sind. Wenn Pränataldiagnostik zu vermehrten Abtreibungen führt, sei dies ein Hinweis darauf, dass Behinderung „als individuelles Schicksal und nicht als kollektiv und sozial zu lösende Verpflichtung gesehen“ wird (ebd.: 89). Dieses individuelle Schicksal wollen offenbar nicht alle Eltern von lebend geborenen Kindern mit Trisomie 21 allein schultern. So gab es in der Vergangenheit häufiger Prozesse um das Kind als Schaden

Schadensfall Kind – Warum Mediziner aus Angst vor Haftung besonders gründlich aufklären

Gynäkologen und Pränatalmediziner:innen befinden sich in Bezug auf das Erkennen von angeborenen Behinderungen in einer prekären Lage. Auf der einen Seite gibt es in Deutschland das Recht auf Nichtwissen. Eltern haben das Recht nicht wissen zu wollen, wie es gesundheitlich, um ihr Ungeborenes steht. Auf der anderen Seite wurden Mediziner:innen in der Vergangenheit immer wieder in Schadensersatzprozesse verwickelt. Eltern von Kindern, die mit Behinderung geboren wurden, klagten gegen die behandelnden Ärzte/Ärztinnen. Ihr Argument: Hätten sie von der Behinderung gewusst, hätten sie das Kind abgetrieben. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Kind als Schaden ist nicht einheitlich. So erkannte der Senat die Schadensersatzpflicht eines Arztes im Jahr 1997 an (vgl. Klinkhammer 1998: 1). Der Mediziner hatte eine Sterilisation durchgeführt, die misslang. Das Ehepaar bekam trotz der Sterilisation ein Kind. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Unterhaltspflicht des Mediziners gegenüber dem Kind. Im Jahr 1993 aber entschied der Senat im Fall eines Kindes mit Behinderung, dass ein Kind rechtlich gesehen keine Schadensquelle sein könne. „Unterhaltspflichten für unerwünschte oder missgebildete Kinder seien danach kein ersatzfähiger Schaden“ (ebd.). Es liegt nahe anzunehmen, dass ärztliches Personal im Zweifel eine Untersuchung zu viel empfiehlt, als zu wenig. Christoph Egen zitiert in seiner Betrachtung des Behindertenbegriffs den Soziologen Norbert Elias: 

Die soziale Existenz von Menschen ist nicht zuletzt auch abhängig von dem Bild, das Menschen voneinander haben, von dem Sinn und Wert, den sie einander zuschreiben. (Egen 2020: 10)

Literatur

Achtelik, Kirsten (2018). Ist pränatale Diagnostik diskriminierend? In Journal für Psychologie, Bd. 26, Nr.2, S. 75-94

Egen, Christoph (2020). Was ist Behinderung? Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne. Bielefeld: Transcript Verlag.

Klinkhammer, Gisela (1998). Kind als „Schaden“: Ein Spiegelbild der Gesellschaft? Deutsches Ärzteblatt. Nr. 95, (S. 31), Online verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/archiv/12524/Kind-als-Schaden-Ein-Spiegelbild-der-Gesellschaft [abgerufen am 23.09.2021]

Müller-Wiedemann, Hans (1990). Pränatale Diagnostik als soziale Herausforderung. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben GmbH.

Schlögl-Flierl, Kerstin; Dannecker, Christian (2020). Abtreibung in Deutschland. In Herder Korrespondenz, Nr. 10, (S. 42-44) Online verfügbar unter: https://www.herder.de/hk/hefte/archiv/2020/10-2020/abtreibung-in-deutschland-grundlagen-methoden-folgen/ [abgerufen am 24.09.2021]

Stockhausen, T. (2002) Down-Syndrom. Es ist ganz normal, verschieden zu sein. In Der Gynäkologe, Nr. 35; (S.1146–1150) . Online verfügbar unter: https://doi.org/10.1007/s00129-002-1288-z [abgerufen am 20.09.2021]

Storm, Wolfgang (2000). Kinder mit Down-Syndrom. „Paradepferde“ der pränatalen Diagnostik. In Stüssel, Hermann (Hrsg.) Das Puzzle muss vollständig sein. Alle – auch Menschen mit Down-Syndrom haben „ihren“ Platz. (S. 130ff). Gütersloh: Förderkreis Wohnen-Arbeit-Freizeit

Weiske, Katja (2008). Die ärztliche Sicht auf Menschen mit Down-Syndrom. Frankfurt a. Main V&R unipress.

Zimpel, André Frank (2016). Trisomie 21. Was wir von Menschen mit Down-Syndrom lernen können. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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